„Es darf nicht langweilig werden“

Jules Winnfield, Berlin
© Sarah Schlopsnies
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Jan-Peter Wulf
27. Dezember 2025 | 
Jan-Peter Wulf

Ein vegetarisches Cocktail-Bistro, seit 2023 mit einem Michelinstern ausgezeichnet, zwei Kochkurs- und Eventspaces sowie eine Focacceria betreibt Jules Winnfield in Berlin. Das wachsende Universum rund um sein „Bonvivant“ fußt auf Nachhaltigkeit und Teamplay – und zeigt: Gourmetgastronomie geht auch anders. Ein Porträt.

„This is a tasty burger“

Im Kultfilm Pulp Fiction beißt Profi-Gangster Jules Winnfield beherzt in einen Hamburger von „Big Kahuna Burger“, den Möchtegern-Gangster Brett ihm nur allzu gerne überlässt – in der Hoffnung, verschont zu werden. Er esse ja selten Fleisch, weil seine Frau Vegetarierin sei – was ihn „quasi“ auch zum Vegetarier mache, erklärt Winnfield, gespielt von Samuel L. Jackson, bevor die Szene bekanntlich eskaliert.

Vegetarisch aufgewachsen

Der Berliner Jules Winnfield ist kein Quasi-Vegetarier. Er ist es seit jeher. Seine Eltern lernten sich in den 1980er-Jahren in einem der ersten vegetarischen Restaurants der Stadt kennen – der Vater, ein gebürtiger US-Amerikaner, arbeitete dort als Koch, die Mutter im Service. Auch zu Hause wurde vegetarisch-biologisch gekocht. „Das war zu einer Zeit, als das noch als uncool galt“, erzählt der heute 37-Jährige Winnfield, das jüngste von drei Kindern, die bis heute alle vegetarisch oder vegan leben.

Nach einigen Jahren als erfolgreicher Partymacher und Clubbetreiber (u.a. des „E4 am Potsdamer Platz“) machte er seine pflanzenbasierte Lebensweise zum gastronomischen Konzept. Gemeinsam mit seinem damaligen Geschäftspartner eröffnete er im Sommer 2019 das „Bonvivant Cocktail Bistro“ im Stadtteil Schöneberg – direkt bei ihm um die Ecke. Schon zu Clubzeiten sei er gern essen gegangen, doch eine wirklich gute vegetarische Auswahl habe ihm gefehlt. Als sich durch seinen Getränkelieferanten die Gelegenheit bot, eine Fläche in einem historischen Eckgebäude in der Goltzstraße zu übernehmen, griff er zu – ohne bereits einen Küchenchef gefunden zu haben. Seine Vorgabe: „Hauptsache vegetarisch, geil und lecker.“

Der erste Küchenchef, Ottmar Pohl-Hoffbauer, erwies sich als Glücksgriff – ein Bio- und Regionalexperte mit großem Netzwerk und vielen kreativen Ideen. „Er hat tolle Gerichte gezaubert“, erinnert sich Winnfield. Die lokalen Gastrokritiker waren begeistert, viele Gäste kamen gezielt aufgrund der positiven Rezensionen. Zugleich etablierte man sich als hipper Brunch- und Barspot. Das Mixkonzept kam gerade in Fahrt, als Corona kam: Lockdown, der Laden komplett geschlossen, kein Lieferdienst, kein Takeaway.

Doch intern herrschte alles andere als Stillstand: Die beiden Auszubildenden in der Küche wurden intensiv in vegetarischer Küche geschult, neue Gerichte wurden ausprobiert, später Pop-ups veranstaltet. Trotz aller Widrigkeiten hielt Winnfield an seiner Vision fest – und das „Bonvivant“ überstand die pandemiebedingte Krise. Mit Nikodemus Berger als neuen Küchenchef ab 2021 nahm das Konzept weiter Fahrt auf. In Wien geboren und aufgewachsen, seit frühester Kindheit Vegetarier, mit Stationen im „Le Meridien“ Wien, dem „Reinstoff“ und dem „Le Faubourg“ in Berlin, entwickelte er das Speisenkonzept weiter – in enger Zusammen- arbeit mit Barchef Elias Heintz entstanden spannende Food-Cocktail-Pairings, auch in alkoholfreier Variante.

Sternegastronomie moderner Art

Im April 2023 wurde die Mühe mit einem Michelinstern belohnt. Der sei nie das erklärte Ziel gewesen, so Winnfield, aber er stehe symbolisch für den Wandel in der Spitzengastronomie. Denn das „Bonvivant Cocktail Bistro“ zeigt, dass es auch anders geht: Ohne eingeflogene Luxusprodukte, dafür mit regionalen Zutaten – teils selbst gesammelt, fermentiert und verfeinert. Mit entspannter, oft ausgelassener Atmosphäre – ob am Abend oder beim Brunch. Mit einer Struktur, die auf Mitbestimmung und Abwechslung statt auf Top-Down-Prinzipien und monotone Zuarbeit setzt.

„Es darf nicht langweilig werden, das ist das Wichtigste“, betont Winnfield. Burn- und Boreout in der Branche entstünden seiner Meinung nach vor allem dadurch, dass Mitarbeitende täglich dasselbe machen müssten und sich kaum kreativ einbringen könnten. Im „Bonvivant“ macht der Service auch Bar – und umgekehrt. In der Küche dürfen sich alle einbringen, etwa beim Dinner-Event „Nachwuchs-Takeover“, bei dem die Azubis das Menü gestalten. „Es gibt bis heute kein Merkblatt, auf dem steht, was ich erwarte. Alle sollen ihre Ideen mitbringen. Wenn du keine Möglichkeit bekommst, dich einzubringen, hast du nicht das Gefühl, dass es auch dein Konzept ist.“ Am großen runden Tisch in der Galerie wird gemeinschaftlich entschieden, was ausprobiert oder übernommen wird – etwa Oshibori-Tücher, eine Idee aus dem Service.

Ein junges Team

Das Ergebnis: Mitarbeitende bleiben hier deutlich länger. „Oder sie schließen ihre Ausbildung ab, arbeiten zwischenzeitlich woanders – und kehren dann zurück“, berichtet Winnfield. Das Team ist sehr jung, im Schnitt Mitte zwanzig. Das birgt auch Herausforderungen: Nur wenige gehen selbst in Restaurants dieser Preiskategorie – auch wenn das „Bonvivant“ weiterhin zu den günstigsten Ein-Sterne-Restaurants der Stadt gehört.

Dass Upselling keine Abzocke, sondern ein Mehrwert für Betrieb und Gast sein kann, müsse er mitunter erklären. Um das Gespür für die Liga, in der man spielt, zu stärken, wird auch mal gepokert: Die Gewinne eines Pokerabends waren Gutscheine für Restaurants wie das „Cookies Cream“, das „Merold“ oder das vegane „Oukan“.

Seit Januar 2025 ist das Menü im „Bonvivant“ komplett pflanzlich. Auch beim Brunch will man perspektivisch Eier durch pflanzliche Alternativen ersetzen. Gemüse allein reiche jedoch nicht immer: „Wer will schon Sellerie und Kohlrabi, wenn er mit einem Kater zu uns kommt“, sagt Winnfield lachend.

Auf Expansionskurs

Rund um das „Bonvivant“ sind inzwischen mehrere Satelliten entstanden. Der ehemalige Second-Hand-Laden nebenan wurde 2023 zum „Studio 32“, in dem Koch-, Back- und Cocktailkurse angeboten werden. Durch einen Durchbruch zur Restaurantküche dient die Fläche zusätzlich als Vorbereitungsküche. Auch die benachbarte Focacceria „caramia“ wurde übernommen und im bestehenden Konzept weitergeführt. 2024 eröffnete ein zweites Studio in Kreuzberg für kulinarische B2B- und B2C-Events. Und 2025 wurde das „Bonvivant“ mit dem Grünen Michelinstern für sein durchdachtes Nachhaltigkeitskonzept ausgezeichnet.

„Bonviwandel“ kommuniziert Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit sei für ihn selbstverständlich, sagt Winnfield: „Ich lebe so und bin so erzogen worden.“ Vernünftig mit Ressourcen umzugehen und nichts zu verschwenden sei für ihn normal gewesen – bis er in die Gastrobranche kam. „Ich wusste vorher nicht, dass es hier anders ist.“

Deshalb läuft im „Bonvivant“ vieles „anders anders“: Brokkolistrünke werden nicht weggeworfen, sondern geschält und als Salatzutat verwendet. Gläser mit kleinen Macken werden abgeschliffen und weiter genutzt. Zwei Beispiele von vielen. Für das große Ganze sorgen mittlerweile sogar eigene Nachhaltigkeitsbeauftragte im über 40-köpfigen Team. Die Kampagne „Bonviwandel“ will künftig noch mehr nachhaltige Tipps über Instagram teilen und den Austausch mit anderen Betrieben fördern. Winnfield: „Ein Brokkolistrunk oder Blumenkohlblätter sind kein Abfall. Viele denken, Nachhaltigkeit kostet Zeit und Geld – aber wenn man sie klug anwendet, kann sie wirtschaftlich sein.“

Das Catering im Blick

Das nächste Team-Event – ein Sportturnier – wird Winnfield in der Turnhalle der benachbarten Schule veranstalten, mit deren Schülern man bereits im „Studio 32“ Kochkurse durchführt. Parallel zum lokalen Engagement wächst auch die internationale Sichtbarkeit – durch Teilnahmen an Masterclasses, Four-Hands- Dinnern und anderen Events im In- und Ausland.

Auch Expansion ist ein Thema: Das bislang kaum beworbene, aber erfolgreiche Cateringgeschäft soll deutlich ausgebaut werden. Und Winnfield schaut sich bereits weitere Gastroflächen in der Stadt an. Seine Motivation ist ungebrochen: „Ich stehe montags auf und habe Lust auf die Arbeit. Ich denke, das ist ein gutes Zeichen – nach sechs Jahren.“

Bleibt eine letzte Frage: Woher stammt eigentlich der Name Jules Winnfield? Freilich heißt der „Bonvivant“- Macher mit bürgerlichem Namen anders. Wie es zu dem Namen kam, verrät er Ihnen bestimmt gerne – wenn Sie bei ihm zu Gast sind.

7 Dinge, die Gastronomen vom Bonvivant-Konzept lernen können

  1. Abwechslung ist alles:
    Häufiger Wechsel zwischen Posten und Aufgaben, neue Themen und Angebote helfen gegen Monotonie und „Boreout“.
  2. Verantwortung (über)tragen:
    Mitbestimmen und -gestalten können, von der Dekoration bis zum Azubi-Dinnerevent, fördert das Wirgefühl.
  3. Vegane Wow-Effekte herauskitzeln:
    Mit der Aromenvielfalt pflanzlicher Produkte und gekonnter Zubereitungstechniken werden auch Fleischesser überzeugt.
  4. Cocktail-Pairings mit und ohne:
    Mit gemixten Getränken lassen sich fantastische, komplementäre wie unterstreichende Pairings kreieren. Natürlich auch ohne Alkohol!
  5. Nachhaltigkeit ganzheitlich leben:
    ökologisch, ökonomisch und sozial – von der kompletten Verwertung der Lebensmittel bis zum wertschätzenden Umgang im Team.
  6. Nachhaltigkeit sichtbar machen:
    Eine Kampagne wie „Bonviwandel“ macht das Engagement für Gäste transparent und lädt Kollegen zum Mitmachen ein.
  7. USPS über das Restaurant hinaus nutzen:
    Bei Koch- und Cocktailkursen, Caterings, Kooperationen und auf Fachevents das nachhaltige Know-how in Szene setzen!

Aus dem Genusspunkt 3/2025

Copyright zu den verwendeten Beitragsbildern:
© Sarah Schlopsnies

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© Sarah Schlopsnies
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